Als Teenager vertrauten wir unsere Sorgen dem Tagebuch an. Immer mehr Menschen nutzen das Büchlein mit sieben Siegeln auch im Erwachsenenalter als Ventil, Dinge loszuwerden. Tagebuchschreiben ist wieder in. Laut Studien soll es einen heilenden Effekt haben und sogar schlau machen. Die Hintergründe – und fünf Tipps fürs Tagebuch schreiben.

An ihrem 13. Geburtstag bekommt ein jüdisches Mädchen in Amsterdam ein rot-weiss kariertes Büchlein geschenkt und notiert darin: «Ich hoffe, dass ich dir alles anvertrauen kann.» Für Anne Frank war das Tagebuch ein Rettungsanker, um mit der lebensbedrohlichen Situation besser umzugehen. Psychohygiene zu betreiben, ist oft ein Grund für das Bedürfnis, seine Gedanken in einem gebundenen Büchlein mit sieben Siegeln festzuhalten. Besonders bei Teenagern. Zwei Drittel aller jungen Frauen zwischen 15 und 24 Jahren schreiben Tagebücher. Bei den Männern ist es immerhin ein Fünftel. Später lässt das Interesse oft nach. Doch immer mehr Erwachsene greifen wieder zu Stift und Papier, um wichtige Dinge loszuwerden.

Tagebuch schreiben hat einen heilenden Effekt

Duden definiert den Begriff «Tagebuch» nüchtern als «Heft für tägliche Eintragungen persönlicher Erlebnisse und Gedanken.» Laut einer Studie von 2016 soll das Schreiben von Tagebüchern aber einen heilenden Effekt haben. Die Autoren resümieren: «Es kann die Aktivität des Immunsystems fördern, wohltuend wirken und depressive Symptome lindern.» Bereits in den 1980er Jahren begründete der amerikanische Psychologe James Pennebaker eine neue Form der Therapie, die heute weit verbreitet ist: das expressive Schreiben. Den Studenten, die im ersten Versuch ihre schmerzhaften Erlebnisse notierten, schien es danach deutlich besser zu gehen. In den folgenden sechs Monaten gingen sie weniger wegen Grippe oder Erkältung zum Arzt als die Studenten der Kontrollgruppe, die über belanglose Dinge schrieben. 1999 wies eine Studie sogar nach, dass expressives Schreiben sowohl Symptome von Asthma als auch Arthritis nachhaltig lindern kann.

Tagebuch schreiben macht schlau

Wissenschaftliche Studien der vergangenen Jahrzehnte finden immer mehr Belege dafür, dass Tagebuchschreiben eine wundersame Wirkung hat. So soll es auch die Intelligenz fördern. Und wenn wir fleissig Lebensereignisse notieren, stärkt das unser Erinnerungsvermögen. Laut Gedächtnistrainerin Margrit Ahrens soll man am besten gleich mit links und rechts schreiben, weil dadurch beide Gehirnhälften optimal trainiert werden.

«Nirgends kann man so schön am eigenen Leib erfahren, dass die Zeit Wunden heilt wie beim Lesen früherer Tagebucheinträge. Oft ist man selbst erstaunt, wie gross ein Problem damals schien, und wie klein es sich heute anfühlt», sagt Psychologin und Pädagogin Dr. Elisabeth Mardorf. Aber sind die Tagebücher von Teenagern wirklich so banal? Nein. Im Gegenteil. «Weil man sich als junger Mensch von den Erwachsenen oft missverstanden fühlt, beginnen viele in dieser Phase mit dem Tagebuchschreiben», weiss Frauke von Troschke, Gründerin des Deutschen Tagebucharchivs. «Das Tagebuch ist ein Ventil, Dinge loszuwerden, die einen bedrücken. Besonders, wenn man das Gefühl hat: Keiner versteht mich.»

Männer finden Tagebuch schreiben albern

Heutzutage sind die männlichen Tagebuchschreiber in der Minderzahl. Aber warum? Liefert der folgende Frau-Mann-Vergleich eine Antwort? Nach dem gemeinsamen Abend schreibt sie im Tagebuch zwei Seiten lang über ihren Kummer – darüber, wie seltsam sich ihr Freund verhielt und dass sie das Gefühl hat, er habe eine andere. Er hingegen vermerkt in seinem Tagebuch an diesem Tag nur einen Satz: «Heute hat Bayern München verloren, aber wir hatten prima Sex.» 

Psychologin Elisabeth Mardorf weiss aus ihrem Therapiealltag: «Während Männer eher sachliche Einträge machen, ist für uns Frauen ein Seelentagebuch oft wie ein enger Vertrauter.» Haben Frauen ein grösseres Mitteilungsbedürfnis und schreiben deshalb eher Tagebuch? Im Internet verrät ein junger Mann seine Sicht: «Tagebuch schreiben gilt unter uns Männern tendenziell als ziemlich alberne Tätigkeit. ‹Weil ihr Angst habt, euch mit euren eigenen Gefühlen zu konfrontieren?›, fragt ihr. Möglich. Auch möglich ist aber, dass wir einfach eine gewisse Abscheu vor der Sache empfinden. Genauer gesagt vor der unerhörten Eitelkeit, die in einem Tagebuch steckt. Ist es wirklich eine so tugendhafte Angewohnheit, sich hemmungslos selbst zu beäugeln und jedes noch so banale Ereignis penibel festzuhalten?»

Der Ursprung des Tagebuchs

Die ursprünglichste Form des Tagebuchs geht auf die Tontafelkalender der Antike zurück. Die Tafeln gaben Auskunft über Konstellationen der Sterne oder über Marktpreise. Auch erste Traumaufzeichnungen entstanden zu jener Zeit. Bis heute sind Träume Bestandteile von Tagebüchern.

Das Tagebuch als Reflexion von Erlebnissen wie wir es heute kennen, nahm seine Anfänge in der Renaissance. Die Menschen werden Zeugen von Entwicklungen, die es vorher nicht gegeben hatte. Die immer komplexer werdende Welt müssen sie verarbeiten – in Form von Reisejournalen oder sogenannten Memorialbüchern. Die zunehmende Verbreitung des Papiers beschleunigte die Sache. Und schon bald schrieb die ganze westliche Welt Tagebuch. Die bekanntesten Tagebücher des 19. und 20. Jahrhundert stammen von Frauen wie Anne Frank oder Virginia Woolf. Oder berühmten Schriftstellern wie Thomas Mann, Franz Kafka oder Max Frisch.

Trend zum Handgeschriebenen – trotz Digitalisierung

Heute braucht es zum Tagebuchschreiben eigentlich kein Papier mehr. Im Internet tummeln sich dutzende Anbieter von Online-Tagebüchern. Im Gegensatz zu einem öffentlichen Blog bleibt das Geschriebene Privatsache. Digitale Tagebücher haben gegenüber denen aus Papier den Vorteil, dass sie nicht zufällig in die Hände von Familienmitgliedern oder WG-Mitbewohnern gelangen können. Manchmal sind die Apps sogar doppelt passwortgeschützt. Sicherheitsliebende dürfen sich über 256-Bit-Verschlüsselungen freuen. Das sind Standards, die das Militär verwendet. Allerdings wird aus einem digitalen Tagebuch mit sieben Siegeln wohl kaum einmal ein Zeitdokument.

Gerade im Zeitalter der Digitalisierung besteht ein Trend zum Handgeschriebenen. Im Wirrwarr von Twitter-Meldungen und Whatsapp-Nachrichten erscheint das Handgeschriebene fast als zwischenmenschliche Grosstat. Es muss ja nicht gerade ein Liebesbrief sein. Aber mit einer handgeschriebenen Einladungskarte oder einem Feriengruss auf dem Postweg signalisieren wir menschliche Nähe. Mit dem sogenannten Handlettering machen wir mit schön gemalten Buchstaben anderen eine Freude. Von Hand schreiben ist eine gute Art, um abzuschalten und sich vom stressigen Arbeitsalltag zu erholen. Und dafür eignet sich das Tagebuchschreiben bestens.

5 Tipps fürs Tagebuch schreiben

  1. Finde dein perfektes Tagebuch

Schreibst du lieber von Hand oder am Bildschirm? Wer immer und überall seine Gedanken aufschreiben will, lädt am besten eine Tagebuch-App herunter. Wer die meditative Variante bevorzugt, schreibt von Hand in ein schönes Büchlein.

  1. Schreib, worüber du willst

Über was soll ich denn schreiben, fragen sich viele. Es ist ganz einfach: über genau das, was Ihnen durch den Kopf geht. Was du denkst, fühlst, mit anderen Menschen erlebst. Über Hoffnungen und Träume. Einfach über alles, worüber du schreiben möchtest.

  1. Wage Experimente

Schreibe eine Zeit lang bewusst über aufwühlende Erlebnisse. Diese Art von expressivem Schreiben wirkt sich positiv auf die seelische und körperliche Gesundheit aus. Notiere vor dem Schlafengehen drei Momente des Tages, in denen du dankbar warst. Das Dankbarkeitstagebuch hilft, das Positive stärker wahrzunehmen.

  1. Finde deinen eigenen Schreibrhythmus

Tagebuchschreiben soll nicht zum Stress werden. Sehen es nicht als deine Pflicht, jeden Tag einen Eintrag machen zu müssen. Während die einen täglich ein paar Zeilen verfassen, nehmen sich andere fürs Tagebuchschreiben einmal im Monat für einen langen Eintrag Zeit. Wichtig ist, den eigenen Schreibrhythmus zu finden.

  1. Lege den Zeitpunkt des Schreibens fest

Bist du Frühaufsteherin oder Morgenmuffel? Es gibt Leute, die schreiben gerne als Start in den Tag und andere am Abend als abschliessendes Resümee. Schreibe dann, wann es für dich am besten passt. Aber lege den Zeitpunkt dafür fest. Dann bleibst du dran.

Benedikt