Seit 130 Jahren finden am 1. Mai weltweit Kundgebungen und Demonstrationen statt. Der Tag der Arbeit steht für sozialen Fortschritt, Gerechtigkeit und Menschenrechte. Mit möglichst eingänglichen Slogans versuchen die jeweiligen Gruppen, die Leute zu erreichen und zum Handeln aufzurufen. Sprachlich gesehen sind die Forderungen jedoch oft verwirrend. Eine Analyse.

Solidarität, jetzt erst recht!

Bild: Ausschnitt des Flyers von 1. Mai 2020 - eine Seite des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB

Unter diesem Motto steht der 1. Mai 2020. Zum ersten Mal in der Geschichte wird es dieses Jahr in der Schweiz keine Demos und Kundgebungen am Tag der Arbeit geben. Mit dem Slogan «Solidarität, jetzt erst recht!» möchte man die Menschen dazu aufrufen, trotz Abstandsregeln zusammenzuhalten. Das funktioniert: «Jetzt erst recht» suggeriert, dass wir uns in einem Ausnahmezustand befinden – dass wir gerade jetzt an einem Punkt angekommen sind, an dem wir handeln müssen. Die Lesenden werden zwar nicht direkt angesprochen, aber empfangen trotzdem einen Aufruf, zu handeln. «Jetzt erst recht» denkt man sich in Situationen, in denen eigentlich alles gegen etwas spricht und man es trotzdem tut. Der Spruch vermittelt ein Gefühl der Handlungsmächtigkeit – allen Widrigkeiten zum Trotz. Der einzige Kritikpunkt: Solidarität ist eines dieser Wörter, das viele Bedeutungen haben kann – und gerade deshalb an Bedeutung verliert. Wenn alle unter einem Wort etwas anderes verstehen, welchen Wert hat es dann noch?

Transparent des Gewerkschaftsbunds Zürich, 1. Mai 2017; Bild: 1. Mai Komitee ZH

Gesundheit vor Profit!

Einfach und eingänglich – das funktioniert. Den Slogan «Gesundheit vor Profit!» verstehen alle. Und die meisten werden dieser Forderung, ohne gross zu überlegen, zustimmen. «Gesundheit» ist ein Wort mit positiven Assoziationen: Man fühlt sich gut, ist fit und voller Energie. Ausserdem ist es ein Wort mit hoher persönlicher Bedeutung: Die eigene Gesundheit ist vielen verständlicherweise ausserordentlich wichtig. Das Wort «Profit» hingegen ist oftmals negativ belastet: Man denkt an Ausbeutung, Ungerechtigkeit, Korruption und dergleichen. Es ist also logisch: Ein positiv besetztes Wort mit hohem persönlichem Stellenwert wie «Gesundheit» kommt vor einem Begriff mit lauter negativen Assoziationen. Einleuchtendes und überzeugendes Konzept – so sollte es sein.

Solidarität statt Mauern: Mehr Rechte für alle!

Bild: Blog des 66. Lehrgangs der Sozialakademie der Arbeiterkammer

Da wären wir wieder beim «Solidarität»-Problem: Es ist einfach ein schwammiger Begriff. Auch dieser Slogan arbeitet wieder mit positiven und negativen Assoziationen: Solidarität ist etwas Gutes, während «Mauern» hier mit Ausgrenzung und Ausbeutung verbunden werden. Seit Trump sind Mauern zum Inbegriff der Ungerechtigkeit und Unüberlegtheit geworden. Eine ähnliche Situation wollen viele hierzulande möglichst verhindern. Solidarität als Alternative zu «Mauern»  zu betrachten, macht aber – jedenfalls wörtlich gesehen – wenig Sinn. Es wäre eher eine Alternative zu Ausgrenzung und rechter Flüchtlingspolitik. Dieser Slogan funktioniert also nur, wenn alle Lesenden «Mauern»  mit diesen grösseren Themen verbinden.

«Mehr Rechte für alle!» ist ein gut verständlicher Aufruf. Allerdings ist es auch eine leere Floskel: Von welchen Rechten sprechen wir? Und wenn «alle» mehr Rechte erhalten sollen, wieso wird dann mit dem Mauer-Begriff spezifisch auf Flüchtlinge hingewiesen? Damit wird indirekt impliziert, dass Flüchtlinge eben doch nicht ganz Teil von diesem «alle» sind – dass sie als aussenstehende Kategorie besonderen Schutz brauchen. Verwirrend.

Mehr zum Leben!

Bild: Unia Schweiz

Wollen wir das nicht alle? Genau deshalb funktioniert dieser Slogan so gut: Wir alle möchten mehr vom und zum Leben – mehr Freizeit, mehr Lohn, mehr Gleichberechtigung, zum Beispiel. Die Liste lässt sich noch ewig fortführen. Das macht die Forderung so stark: Sie ist so allgemein gehalten, dass sich noch eine Vielzahl weiterer, spezifischer Forderungen damit machen lässt. Die Frage «mehr wovon?» erübrigt sich somit. «Mehr zum Leben!» suggeriert zudem, dass es mehr zum Leben gibt als wir momentan haben. Der Slogan motiviert einen dazu, genau dies einzufordern. Ziel erreicht!

Frau* hat Recht!

Bild: SRF

Dieser Slogan klingt zwar gut, aber sagt aber eigentlich nichts aus. Im Plural macht er gleich mehr Sinn: Frauen haben Rechte. Das wäre aber kein guter Slogan, denn es ist logisch, dass Frauen Rechte haben. Haben Männer ja auch. Im Singular suggeriert der Slogan eher, dass Frauen Recht haben. Das ist sicherlich oft der Fall, doch Irren ist menschlich. Davor werden auch Frauen nicht verschont. Was der Slogan genau aussagen will, bleibt schleierhaft. Die Forderungen nach Lohngleichheit und Vereinbarkeit von Arbeit und Familie bleiben ebenfalls verborgen. Das Gendersternchen sorgt für zusätzliche Verwirrung: Für was wird hier eigentlich demonstriert? Frauenrechte, LGBTQ-Rechte oder doch für Arbeitsrechte? Wahrscheinlich ein bisschen von allem. Verwirrend.

Wie hast du die Slogans verstanden? Beurteilst du sie ähnlich wie wir oder hast du eine andere Meinung? Erzähl es uns in den Kommentaren! 😊

Manuela

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